Must Have: Definitionsmacht

Zur Unabdingbarkeit einer antisexistischen Praxis

Normalität sexueller Gewalt

Sexismus ist ein vielfältiges Phänomen. Er schlägt sich nieder in unterschiedlicher Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum, in Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen in unterschiedlichem und stets zu kritisierendem Ausmaß. In diesem Text beschränken wir uns jedoch nur auf eine Dimension des gesellschaftlichen Sexismus: auf sexualisierte Grenzüberschreitungen und Gewalt, wie sie zwar beständig totgeschwiegen, aber nichtsdestotrotz nicht weniger präsent im Alltag vieler Menschen sind.

In einer Befragung aus dem Jahre 2005 des Bundesministeriums für Familie sagte jede siebte der befragten Frauen zwischen 16 und 85 Jahren, dass sie sexuelle Gewalt erlebt hat, welche nach der juristischen Definition als Straftat gilt. Die Bundeskriminalstatistik registrierte für 2004 8.831 Vergewaltigungen. Der Bundesverband autonomer Frauennotrufe geht davon aus, dass jede Fünfte während ihres Lebens eine Vergewaltigung erlebt. Viele Betroffene werden aber als solche gar nicht erst sichtbar, da sie einen Täter niemals angezeigt haben, sie nicht in ein Frauenhaus geflüchtet sind. Diese Informationen sind nicht neu. "Neu" ist höchstens, dass seit 1998 Vergewaltigung in der Ehe als Straftat gilt. Auch dafür haben Feminist_innen lange und hart kämpfen müssen.

Sexuelle Gewalt wird fast ausschließlich von Männern gegen Jungen und Mädchen im Kindesalter sowie gegen Frauen im Jugend- und Erwachsenenalter ausgeübt. Täter_innen- und Mittäter_innenschaft durch Frauen schließen sich dabei zwar nicht aus, sie sind jedoch in Wirklichkeit so selten, dass es sich nicht verleugnen lässt, dass Männlichkeit und potentielle Täterschaft in unserer Gesellschaft strukturell zusammengehören. Dies entspricht schließlich auch den hierarchischen Geschlechterverhältnissen in unserer Gesellschaft. Die Angst vor Übergriffen gehört zur Lebensrealität von Frauen.

Hinzu kommt, dass sexualisierte Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung sich in der Regel nicht, wie oftmals angenommen in dunklen Seitenstraßen abspielen, und die Täter über eine ihnen unbekannte Frau herfallen (was jedoch wiederum nicht heißen soll, dass es nicht auch solche Taten gibt). Sexualisierte Gewalt spielt sich im Alltag vieler Menschen ab und mehrheitlich sind sich die Betroffene und der Täter bekannt, miteinander befreundet oder hatten möglicherweise in der Vergangenheit eine freiwillige sexuelle Beziehung zu einander.

Durch sexistische Diskriminierung und Gewalt werden die Bedürfnisse nach Distanz und Grenzen ebenso wie das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen übergangen. Sexistische Diskriminierung und Gewalt haben wenig mit Sexualität, aber viel mit dem Macht- und Kontrollbedürfnis der Täter zu tun.

Definitionsmacht für die Betroffenen

Auf dem Rechtsweg, aber oftmals auch, wenn sie vor Freund_innen und Bekannten über die Gewalt, die ihr angetan wurde, spricht, ist eine Betroffene dazu gezwungen, die erlebte Erfahrung in aller Öffentlichkeit detailliert darzulegen. Dabei werden ihre persönlichen Grenzen erneut ignoriert. Es ist bekannt, dass sich die traumatisierende Tat auf diese Weise für viele der Betroffenen wiederholt. Außerdem outet sie sich in aller Öffentlichkeit: vor Freund_innen, Familie, Kolleg_innen als Opfer einer Vergewaltigung mit den verschiedenen (negativen) sozialen Konsequenzen, von denen hier einige auch als Argumente für die Definitionsmacht weiter unten angeführt sind. Dies bedeutet oft Jahre der Anstrengung und der Ausgrenzung; zusätzlich zur Verarbeitung der Gewalterfahrung. Freigesprochen werden die meisten der Täter außerdem.

Männer üben so die Definitionsmacht über weibliche Sexualität, über Vorstellungen von weiblicher Sexualität aus. Das gilt auch für den Blick auf Grenzen, die verletzt werden – im engeren Sinne allein schon durch diese Fremddefinition. Dieses spiegelt sich auch in der Rechtssprechung wieder, aber ebenso im täglichen Umgang miteinander. Eine Umverteilung dieser Definitionshoheiten in Richtung der Frauen ermöglicht diesen zunächst einmal eigene Grenzen wahr- und ernst zunehmen, Sexualität selbstbestimmt und den eigenen Vorstellungen entsprechend zu leben.

Den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ihre Erfahrungen zu äußern und ihnen ohne weiteren Erklärungsbedarf Glauben zu schenken, ist eine fundamental notwendige Antwort auf den patriarchalen und sexistischen „Normalzustand“ der Gesellschaft, in der wir leben und die wir selbst ständig wiederherstellen. Diese Praxis ist bekannt geworden als "Definitionsmacht".

What are you talking about? Tabus und Abwehr

Ein zentraler Machtmechanismus im Zusammenhang mit sexistischer Diskriminierung und Gewalt ist die Tabuisierung des Themas. Werden solche Verhaltensweisen aber dennoch erlebt, müssen sie verdrängt oder umgedeutet werden: als missglückter Flirtversuch oder als unangenehmes, aber ganz ‚normales‘ Männerverhalten. Betroffenen wird so die Möglichkeit genommen, sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren, sie überhaupt als solche zu benennen. Nur wenn sie gegen die herrschenden Normen verstoßen und bereit sind, die Folgen zu tragen, ist es ihnen möglich, gegen sexistische Diskriminierung und Gewalt vorzugehen.

Daher werden im Folgenden einige Argumente widerlegt bzw. als Teil des „gesellschaftlichen Normalzustandes“ kenntlich gemacht, die oft gegen die Definitionsmacht in Anschlag gebracht werden. Es soll aber auch darum gehen, die Notwendigkeit der Definitionsmacht etwas näher herauszuarbeiten.

Objektivität? - Die sexistische Brille

Die Hierarchien im Geschlechterverhältnis verstärken, dass die Positionen von Frauen nicht ernst genommen werden und sie ihre Wahrnehmung der Situation nicht durchsetzen können. Die dominierende Wahrnehmung ist eben eine männliche. So wird sexistische Diskriminierung und Gewalt oft toleriert, übersehen oder heruntergespielt.

Gerade Feminist_innen haben immer wieder stark gemacht, dass Geschlechterbilder und damit auch eben diese Strukturen veränderbar sind. Männer müssen nicht sexistisch handeln und wahrnehmen. Sie müssen Sexualität nicht aggressiv und gegen die Interessen und den Widerstand von Frauen ausleben und durchsetzen. Sie tun es aber immer wieder! Frauen werden als Männern verfügbar und von ihnen verführbar gedacht. Und die Gesellschaft übernimmt genau diese Perspektive.

In dieser Perspektive sind auch oft die Betroffenen gefangen. So sind sie z.B. meist verunsichert darüber, ob die Situation richtig eingeschätzt wurde und ob die eigenen Gefühle nicht eine übertriebene Reaktion darstellen. Wichtig sind hier die Reaktionen der Umwelt: ob sie dazu anregen, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen oder sie eher den Übergriff verharmlosen oder gar anzweifeln. Immer wieder treten Zweifel an der Deutung ihrer Wahrnehmungen und Interpretationen der Situationen auf und es ist nicht einfach, die erlebte sexualisierte Diskriminierung oder Gewalt nicht nur als persönliches, sondern auch als gesellschaftliches Problem zu betrachten.

Da schon gezeigt wurde, dass unsere Wahrnehmung und Deutung zutiefst männlich geprägt ist, steht auch außer Frage, ob es objektive Kriterien für eine Grenzverletzung geben kann. Eine Grenzüberschreitung bis hin zur Vergewaltigung ist nicht objektiv beweisbar. Was eine Grenzüberschreitung ist, was als Vergewaltigung gilt ist allein Sache der Betroffenen. In diesem Sinne gibt es erst Recht kein „Maß der Schwere der Tat“ oder Ähnliches.

Machtmissbrauch?

Eines der beliebtesten Argumente gegen die Definitionsmacht ist der Verweis auf die Möglichkeit des Machtmissbrauches. Dieses Argument übersieht allerdings, dass Missbrauch der Definitionsmacht auch heute schon Alltag ist: nur dass er eben von Tätern vollzogen wird und somit „unsichtbar“ bleibt. Wie oben beschrieben, wird der Täter ohnehin durch verschiedene gesellschaftliche Strukturen geschützt. Wir müssen uns also letztlich fragen, auf welcher Seite wir stehen wollen.

Die Anzahl einiger weniger Frauen, die die Möglichkeiten der Definitionsmacht zur Diskreditierung nichtschuldiger Männer verwenden könnten, ist im Verhältnis zu den niemals geäußerten Vorfällen verschwindend gering - so unangenehm dies im Einzelfall auch sein möge.

Dazu kommt, dass wenn jemand als Vergewaltiger ‚geoutet’ wird, sich auch die Betroffene outet. Das ist nicht angenehm und sie erfährt durch die Auseinandersetzung in der Regel keine Aufwertung ihrer persönlichen Integrität durch ihren Betroffenenstatus. Im Gegenteil: Den Betroffenen wird unterstellt, den Täter fälschlicherweise zu beschuldigen. Sie müssen mit Sympathieverlust, Abwertung und Ausgrenzung rechnen. Zusätzlich fällt es dem Täter recht leicht, immer wieder zu bekräftigen, dass es ja ganz anders gewesen sei, während auf die Betroffene oftmals immer wieder Druck aufgebaut wird, Details über die Vergewaltigung offen zu legen, um ihre Anschuldigungen zu "beweisen". Dies stellt, wie bereits erwähnt, für die Betroffene oftmals eine Retraumatisierung dar und wiederholt so die durch die Vergewaltigung erfahrene Verwundung.

Aus diesen Gründen wagen viele Frauen nicht, die sexualisierte Diskriminierung und Gewalt öffentlich zu machen, denn sie sind auf die Unterstützung ihres Umfeldes angewiesen. Und selbst wenn die Betroffenen eher auf Verständnis und Solidarität in ihrem Umfeld stoßen, sehen sie sich nun oft mit dem Stigma des „passiven Opfers“ belegt; ein weiterer Macht– und Selbstbestimmungsverlust.

Vergewaltigungsmythen & „Männer sind halt so..“

Über die Täter herrschen die Vorurteile, sie seien anormal, psychisch krank oder sexuell gestört. Dieses Bild ist falsch, denn die Täter sind meist ganz ‚normale‘ Männer aus allen Berufs- und Bevölkerungsgruppen, denen so etwas nicht zugetraut würde - der nette Kommilitone, der hoch angesehene Chef oder der hilfsbereite Kollege mit Frau und Kindern. Eben dieses falsche Bild erfüllt auch die Funktion, das Verhalten, oder sogar Sexismus allgemein, als etwas „Fremdes“ zu denken, dass nichts mit der „heilen, emanzipierten Welt“ - eben mit dem Alltag - zu tun hat.

Die Entrüstung über Vergewaltigung verstummt sofort, wenn ein vermeintlich "normaler" Mann als Täter benannt wird. Dann erscheint die Anklägerin als "Monster", die aus niederen Gründen ein unschuldiges Leben zu zerstören trachtet. Die Solidarisierung mit Betroffenen weicht hier einem Menschenbild, in dem die Glaubwürdigkeit und Identität von Frauen weniger wert und wichtig ist, als der bedingungslose Schutz von „ehrenhaften“ Männern.

Dann gibt es da noch Mythen über die „normalen Männer“: Das übergriffige Verhalten der Männer wird gerechtfertigt ("Trieb") und die Betroffene wird für das Vorgefallene verantwortlich gemacht (ihre Kleidung war zu knapp, sie hat ihn "verrückt" gemacht); sie wird als "Schlampe", oder als hinterlistig bezeichnet. Wir fordern dazu auf, mit dieser Perspektive zu brechen und Männer / sich selbst als Mann für solches Verhalten in Verantwortung zu ziehen, damit sexuelle Gewalt nicht als "Frauen-Problem" an die Betroffenen delegiert wird, sondern als Problem dieser Form von Männlichkeit diskutiert und angegriffen wird. Wir wollen, dass sexuelle Gewalt als sexistischer Normalzustand ein Ende hat!

The tyranny of beauty? Verführung und Verfügung

Oft genug und immer noch gibt es im Umgang mit sexueller Gewalt das Argument zu hören, dass die Betroffenen möglicherweise durch den ein oder anderen Beitrag eine Mitschuld an dem Geschehenen tragen sollen.

Dabei wird im Grunde Selbstverständliches übersehen: Es gibt keine Rechtfertigungen für die Ausübung sexueller Gewalt. Es gibt auch kein Verhalten der betroffenen Personen, das in letzter Konsequenz eine Vergewaltigung verhindern könnte, denn über die Ausübung sexueller Gewalt entscheiden die Täter. Anstatt nachzufragen, ob das alles auch so okay ist oder sensibel für die Grenzen der_des anderen zu sein, machen sie, was ihnen beliebt und sehen in den Betroffen willfährige Objekte ihrer sexuellen Neigungen und Machtphantasien. So werden sexuelle Beziehungen oft in Form von Erobern und Überreden gedacht, eine auf gegenseitige Lust bedachte Sexualität kommt darin nicht vor.

Dagegen gilt stets: „No means No!“ Männer müssen nicht sexistisch handeln. Wenn Unsicherheiten darüber bestehen, wann eine sexuelle Handlung zu weit geht und Grenzen verletzt werden, kann sich ein Mensch dementsprechend verhalten. In jedem Fall ist es besser (und sollte sich ohnehin von selbst verstehen), einmal mehr nachzufragen oder sich eine Chance auf Sex entgehen zu lassen, als Grenzen zu verletzen!

Mein Körper gehört mir!

Die zusammengetragenen Einwände gegen die Definitionsmacht stellen in ihrer Gesamtheit einen Angriff auf diejenigen Menschen dar, die von sexuellen Übergriffen und Gewalt betroffen sind. Das muss ein Ende haben! Damit Menschen auf einer Augenhöhe miteinander Lust und Begehren leben können, damit nicht ständig aus Angst vor Gewalt oder wegen konkreter Erfahrungen Lust getötet wird, ist jeder und jede einzelne gefragt, den Normalzustand sexueller Gewalt anzugreifen. Vielen ist das egal, bis sie eine Betroffene kennen gelernt haben.

"Nein", "ich weiß nicht", "ich mag Dich, aber", "...", - heißt Nein! Wer ein Nein nicht akzeptiert, ist ein Täter! Damit aber gar nicht erst so viele Menschen derartig tief verletzt werden, braucht es einen Perspektivwechsel: weg vom Täterschutz und der Verteidigung bzw. Rechtfertigung übergriffiger Sexualität.

Stattdessen muss die aktive Solidarität mit der Betroffenen zum antisexistischen Standard gehören. Die Bedürfnisse der betroffenen Frau müssen an allererster Stelle stehen. Jeder Vorwurf von sexueller Gewalt oder Sexismus ist absolut ernst zu nehmen. Die Solidarisierung mit ihr ist immer erstmal das Wichtigste. Ein zentrales Element der Erfahrung von sexueller Gewalt ist eine Situation von absolutem Kontrollverlust und einem Gefühl tiefer Ohnmacht - die Betroffene wird vom Täter zum Objekt und Opfer gemacht. Sexistische und Täterschutz-Strukturen zwingen die Betroffene immer wieder dazu, in dieser Situation zu verharren, sich niemandem anzuvertrauen und / oder sich zu wehren. Darum ist es zentral für die Betroffene, eine möglichst große Kontrolle über alles zu haben, was passiert. Es darf absolut nichts laufen, was die Betroffene nicht will. Positiv gewendet geht es im Prozess der Unterstützung darum, die Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmtheit von Betroffenen wiederzugewinnen. Das bedeutet, eine Position herzustellen, in der die Betroffene nicht mehr Opfer sein muss, sondern handelnde Aktivistin sein kann. Konkret heißt das: Es muss immer die autonome Entscheidung der Betroffenen sein, wem sie wann wie viel erzählt, was ihr Bedürfnis in der konkreten Situation ist. Für eine Positionierung und Solidarisierung reicht es aus, zu wissen, dass es einen Vorwurf gibt.

Der Schutz der privaten und politischen Räume der Betroffenen ist ein weiteres wichtiges Ziel. Meist steht an erster Stelle (auch als konkretes Bedürfnis) der rein defensive Schutz der privaten und politischen Räume der Betroffenen. Die Anwesenheit des Täters oder des aktiven Täterumfelds stellt eigentlich immer eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Betroffenen dar. Gegen diese Gefährdung muss ein Schutzraum hergestellt und durchgesetzt werden. (Darum gibt es auf dem Festivalgelände einen eigenen Schutzraum in dem ihr Menschen findet, die sich genauso verhalten werden, wenn ihr Schutz und Hilfe braucht – Näheres dazu in dieser Readerin)

Die Betroffene trifft zusammen mit ihrem Vertrauensumfeld (Unterstützer_innenkreis) die Entscheidung, wann und wie eine Täterkonfrontation stattfindet. Alle Fragen der Verhaltensregeln für den Täter, der Bewertung seiner Reaktionen und der Entscheidung über den weiteren Umgang mit ihm liegen bei der Betroffenen. Schließlich geht es nicht um die objektive Bewertung der “Schwere des Verbrechens” – sondern um die Ausübung von Definitionsmacht in einem Unterdrückungsverhältnis.

Originalquellen:

Kampagne zur Definitionsmacht

When my anger starts to cry

Was tun wenn‘s brännt

Sexualisierte Diskriminierung & Gewalt an der Hochschule


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Erschienen am: 28.05.2008 zuletzt aktualisiert: 28.05.2008 17:06 AutorIn: email-address