Teil Eins: Einleitung
Wir wurden gebeten noch ein paar Worte zu unseren Namen zu sagen. Vielleicht fange ich mit dem Untertitel an: „Für einen neuen Realismus“.
In der politischen Landschaft wird ja andauernd Realismus eingefordert. Menschliche Bedürfnisse haben sich vor der Matrix betriebswirtschaftlicher Rationalität zu bewähren – sonst gelten sie nicht. Das gilt allgemein als ein rationales Vorgehen. Allerdings zeigt diese Rationalität mehr und mehr ihre irrationalen Seiten, was bei genauem Hinsehen kaum noch zu übersehen ist – wir werden da im Laufe der Veranstaltung drauf zurückkommen.
Sich an den herrschenden Verhältnissen auszurichten, gilt also als realistische Option. Hier muss allerdings festgehalten werden, dass derlei Realismus tatsächlich unrealistisch ist, wie Adorno schon Ende der 50er Jahre zu Recht bemerkte.
Seien wir also mal richtig realistisch: Mit dem Kapitalismus ist keine menschenfreundliche Gesellschaft zu machen. "Soziale Marktwirtschaft" & Co sind doch nichts als schlechter Idealismus.
Schauen wir uns doch mal die nackten Tatsachen an. Um eine Gesellschaft einzurichten, die den Bedürfnissen der Einzelnen gerecht wird, hilft nur noch diejenige Bewegung, die die herrschenden Verhältnisse insgesamt aufhebt. Und das war – auch dazu werden wir noch kommen – laut Marx der Kommunismus.
Was es dafür braucht, ist eine ganz grundsätzliche Veränderung politischen Handelns. Zum einen geht es darum, sich kritische Gedanken über die herrschende Gesellschaft zu machen und die damit verbunden Theorien zu diskutieren und zu verbreiten – was wir hier zumindest ansatzweise versuchen wollen. Das wird allerdings nicht reichen. Zusätzlich wird es sicherlich kaum zu verhindern sein, die immer neuen Zumutungen an unser Leben, die stetig um sich greifenden Verschlechterungen zu thematisieren und nach Möglichkeit zu verhindern. Es muss also auch um Widerstand gehen. Und auch das wird kaum reichen. Denn alleine der Widerstand weist noch nicht auf eine andere Form gesellschaftlichen Miteinanders. Es braucht also zusätzlich auch eine Praxis alternativer Vergesellschaftung, die im Hier und Heute anfängt, eine andere, emanzipierte Gesellschaft aufzubauen.
Es sind also drei Punkte, die notwendig sind für jede linke Praxis, die langfristig erfolgreich sein möchte: Theorie, Widerstand, alternative Vergesellschaftung. Bei solchen Sachen ist es dann oft üblich, die in einer Art Dreieck anzuordnen und festzustellen, wie sich die einzelnen Teile des Dreiecks zueinander verhalten. Und die Winkelsumme in diesem Dreieck beträgt dann 180 Grad.
Es geht hier um Kapitalismuskritik. Im Flyer haben wir beschrieben, wie das normalerweise zugeht, wenn Menschen etwas betreiben, was sie für Kapitalismuskritik halten. Im Frühjahr 2005 hatte Franz Müntefering international agierende Anlagefonds als „Heuschrecken“ bezeichnet - und schon hat die Republik angefangen, über die Marktwirtschaft zu streiten. Und wir immer in solchen Momenten durfte diese Marktwirtschaft dann für ein paar kurze Monate sogar wieder Kapitalismus genannt werden. Überall wurden dann gewissenlose Investoren, raffgierige Kapitalisten, Heuschrecken, Raubtiere und dergleichen mehr entdeckt. Es wurde der Eindruck erweckt, das Übel des Kapitalismus ließe sich recht schnell dingfest machen: Schuld ist der individuelle Bereicherungstrieb einzelner KapitalistInnen, die einfach den Hals nicht voll kriegen können.
Der Stern hat dann die Diskussion aufgegriffen und diese Bilder als „Zerrbilder“ bezeichnet:
Der Reiz der Zerrbilder ist, dass sie so schön einfach sind - endlich hat die Welt wieder eine Ordnung. Bloß sind die Spielregeln des modernen Kapitalismus komplizierter. Natürlich gibt es Gewinner und Verlierer, und Getriebener zu sein ist nicht so schlimm, wenn man dafür, wie Josef Ackermann, elf Millionen Euro im Jahr bekommt. Aber den Spielregeln sind alle unterworfen. Alle halten das Hamsterrad am Laufen. Seit Jahren stagnieren die Realeinkommen der Beschäftigten, die Arbeitslosigkeit steigt. Also kaufen viele so billig wie möglich ein, weil sie kein Geld mehr haben oder es zusammenhalten wollen. Konjunktur haben allein die Discounter.
Und die Deutschen sind nicht nur Konsumenten, Arbeitnehmer, Arbeitslose - sie sind selbst Anleger, also kleine Heuschrecken. Sie besitzen Aktien und andere Unternehmensbeteiligungen für schätzungsweise eine Billion Euro, das sind 1000 Milliarden Euro. Viele wissen nicht einmal, dass sie Aktionäre sind, denn die Papiere sind oft in Lebensversicherungen oder Investmentfonds versteckt. Von der einen Billion Euro sind gerade mal ein paar Promille in so genannten ethischen oder ökologischen Fonds investiert.1
Wir ahnen worauf das hinausläuft: Weil irgendwie alle am Kapitalismus beteiligt sind, kann niemand persönlich für ihn verantwortlich gemacht werden. Und deshalb können wir da auch nichts gegen tun.
Karl Marx , dessen Name ja häufig mit Kapitalismuskritik verbunden wird, steht in diesem Fall entgegen landläufiger Meinung auf keiner der beiden Seiten. Im Gegensatz zu Müntefering hat er den Kapitalismus weniger als individuelles Bereicherungsprojekt einzelner KapitalistInnen begriffen, sondern als gesellschaftliches System, das wir alle tagtäglich mit herstellen. Im Gegensatz zum Stern hat er aber durchaus erkannt, das dies System eben tatsächlich von Menschen durch ihr Handeln geschaffen wird – und deshalb durch eine Veränderung dieses Handelns auch ganz grundsätzlich verändert werden kann.
Obwohl Marx sich also nicht so richtig in die einfachen Erklärungsmuster einfügen lassen will, die heutzutage so von Politik und Feuilleton kolportiert werden – oder vielleicht auch gerade deshalb – wird ihm die eine oder andere Sichtweise immer mal wieder untergeschoben. Wir können diese intellektuellen Fehlleistungen hier sicherlich nicht abschließend und umfassend behandeln, aber auf ein paar wollen wir doch noch mal eingehen.
Und – um auch das vorher noch mal zu klären: das marxsche Werk ist recht lang – die Marx-Engels Gesamtausgabe umfasst 42 dicke Bücher – und wir werden hier sicherlich nicht alles erzählen können und es wird sicherlich auch nicht alles vollständig klar werden. Aber auch die Tatsache, dass da etwas nicht vollständig klargeworden ist, ist ja durchaus eine Erkenntnis: nämlich die, das wir dies Phänomen wohl alle selber durchdenken müssen und da keine noch so gute Zusammenfassung für ausreicht. Wer also etwas nicht versteht sollte nicht den Mut verlieren, sondern es lieber als Ansporn nehmen, das Thema selbständig zu durchdenken.
Von den vielen Feldern, auf denen für gewöhnlich Vorurteile gegen die marxsche Theorie ausgetauscht werden, haben wir die vier ausgewählt, die wir für die derzeit prominentesten halten: die Auseinandersetzung um den Realsozialismus, den instrumentellen Marx-Bezug von Leuten, die mit ihm ansonsten recht wenig anfangen können, die Auseinandersetzungen rund um das Klassenparadigma und die Debatten rund um die RAF.
(1) Realsozialismus
Das häufigste Argument gegen Marx ist wohl der Realsozialismus. Zum einen stehen die Protagonisten der Realsoz im Verdacht, vor ihrem Tun das marxsche Werk gründlich studiert zu haben, zum anderen soll dann als Folge davon die marxsche Theorie praktisch umgesetzt worden sein. Das historische Scheitern der realsozialistischen Staaten im Systemwettkampf zeigt dann die Fehlerhaftigkeit der marxschen Theorie. Ganz in diesem Sinne kann dann auch Dieter Schwanitz in seiner Sammlung von dem, was er an Bildung für unerlässlich hält, auch Sätze wie diesen Formulieren:
"Die Stärke des Marxismus kann man daran Ermessen, das seine Kurse auch dann noch unverändert hoch notiert wurden, als unübersehbar wurde, das er in der realexistierenden Wirklichkeit eine Katastrophe anrichtete“2
Letztlich ist beides Falsch. Weder waren alle die, die im Ostblock, in China oder wo auch immer versuchten, ihre ganz spezielle Variante von staatlicher Ökonomieplanung zu etablieren, allesamt ausgewiesene Marx-Kenner, noch hatte das dort politisch Umgesetzte auch nur im Ansatz etwas mit Marx zu tun.
Der eher maue Kenntnisstand in Bezug auf das Werk von Karl Marx lässt sich vielleicht am Besten mit einer Geschichte verdeutlichen, die Isaak Deutscher in einem Buch über Ignaz Daszyński berichtet. Ignaz Daszyński war erster sozialdemokratischer Ministerpräsident in Polen Anfang des 20. Jhds und recht einflussreicher Theoretiker um die Jahrhundertwende. Er wurde in einem Interview mal gefragt, wie es denn um seine Kenntnis der marxschen Theorie bestellt sein. Daraufhin meinte er dann, das Kapital sei ihm ja eine zu harte Nuss, weshalb er es nie gelesen habe. Karl Kautsky habe allerdings das Kapital gelesen und anschließend eine populäre Zusammenfassung vom ersten Band des Kapitals geschrieben. Die wiederum habe der Cheftheoretiker der polnischen Partei gelesen und davon nochmal eine Zusammenfassung gemacht. Herman Diamant wiederum, seines Zeichens Finanzexperte der Partei, der habe dann diese Schrift gelesen und Daszyński alles Wichtige erzählt. Weshalb der genau zu wissen meinte, worum es da ging.
Dann gibt es noch den Irrglauben, Marx habe ein positiv umsetzbares System geschaffen. Beispielhaft dafür sei hier Jürgen Rüttgers, seines Zeichens CDU-Ministerpräsident in NRW zitiert:
„Der Marxismus als Basis aller linken Spielarten vom Anarchismus bis zur Sozialdemokratie war die 'große Erzählung ' der Industrieepoche. Er wurde in großen Teilen der Welt – im Sowjetimperium, in China, in vielen ehemaligen Kolonien wie Kuba, Angola oder Vietnam – als 'real existierender Sozialismus ' politische Wirklichkeit.“3
Mit Marx hat das alles wenig bis gar nichts zu tun. Der hat sich nämlich immer wieder davon abgegrenzt, etwa wenn er in seinen Notizen zu Adolf Wagner 's Lehrbuch der politischen Ökonomie schreibt: „Nach Herrn Wagner ist die Werttheorie von Marx "der Eckstein seines sozialistischen Systems" Da ich niemals ein "sozialistisches System" aufgestellt habe, so dies eine Phantasie (der anderen)“4
(2) Pseudo-Marx-Bezug
Das zweite Phänomen sind Leute, die sich auf Marx beziehen, um ihrem aktuellen politischen Vorhaben höhere Weihen zu verleihen. Es wird dann so getan, als würde eine wahlweise blödsinnige oder menschenfeindliche Forderung gerade dadurch weniger schlimm, dass sie sich auf Karl Marx beziehen kann. Da gibt es beispielsweise das Streitgespräch zwischen dem konservativen Historiker Paul Nolte und dem gewerkschaftsnahen Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. Und im Rahmen dieses Gespräches hat sich Hickel dann dafür ausgesprochen, die Wissenschaft und die Politik sollten doch den Marx mal wiederentdecken. Seine Begründung war dann ebenso einfach wie falsch: auch Marx wäre für eine Umverteilungspolitik im Sinne der gewerkschaftlichen Forderungen gewesen. Marx als Nachfragetheoretiker, sozusagen.5
Den Vogel abgeschossen hat dann aber Kurt von Figura, seines Zeichens Präsident der Uni Göttingen. Der saß in einem dieser Vorlesungssääle in einer Diskussionsrunde, und sollte erklären, wie zur Hölle er auf die Idee kommt, Studiengebühren toll zu finden. Und das hat ihn dann zu einer rhetorischen Finte veranlasst, die in der Debatte häufiger mal vorkommt. Studiengebühren sind gerecht, so sein Argument, weil schon Karl Marx sich gegen ein bezahlfreies Studium ausgesprochen habe. Der hatte nämlich geschrieben:
„Wenn in einigen Staaten der letzteren auch "höhere" Unterrichtsanstalten "unentgeltlich" sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten.“6
Das Zitat stammt aus der „Kritik am Gothaer Programm“. Das ist ein Text, in dem sich Marx kritisch mit dem Parteiprogramm der damaligen SPD auseinandersetzt und eigentlich kein gutes Haar daran lässt. Und das, obwohl das damals durchaus noch eher emanzipatorische Impulse hatte, als das heute der Fall ist. Die SPD hatte kostenfreien Unterricht gefordert und Marx hat scharfsinnigerweise festgestellt, dass das am Kapitalismus so erstmal nichts ändert. Hintergrund dieser Äußerung bildet also die Erkenntnis, dass im Kapitalismus einiges schiefgeht. Da wollte Figura auf Nachfrage allerdings nichts von wissen. Die Schlussfolgerung, die Marx daraus zieht, war die Abschaffung des Kapitalismus. Davon wollte Figura auf Nachfrage ebenfalls nichts wissen.
Will sagen: er teilt weder die Prämissen der Aussage noch ihre Schlussfolgerung. Aber er möchte trotzdem gerne ein politisches Argument draus machen. Es tut mir leid, aber wie ich ihn da noch ernst nehmen soll, ist mir wirklich schleierhaft. Mit Marx hat das jedenfalls nichts zu tun.
(3)Ausbeutungs- oder Klassenkampf – Rhetorik
Das klassische Agitationsfeld der ArbeiterInnenbewegung war immer der Klassenkampf. Kapitalismus galt hier immer als „die da oben“ - also die KapitalistInnen gegen „wir hier unten“ - also die ArbeiterInnen. Entsprechend heißt es dann auch in einem alten Lied der ArbeiterInnen-Bewegung, den „Arbeitern von Wien“:
„Oben“, sind in diesem Fall die „Herrn der Fabriken“ und die „Herren der Welt“, was erstmal dasselbe zu sein scheint. Wer über die Fabriken regiert, regiert auch über die Welt. Diesen Herren entgegengesetzt erscheint hier „die Armee die die Zukunft erschafft“. Damit sind – der Titel deutet es an – die ArbeiterInnen gemeint. Oder, wie das damals oft hieß: die ProletarierInnen. Die arbeiten nämlich in den Fabriken und werden durch die Herrschaft ihrer Fabrikherren gefesselt. Allerdings haben sie auch gleichzeitig eine historische Mission zu erfüllen. Sie sollen nämlich die Zukunft erschaffen und der Fesseln engende Haft sprengen.
Dies Motiv war lange Jahre das zentrale Motiv innerhalb der politischen Linken: Oben gegen Unten, KapitalistInnen gegen ProletarierInnen. Ganz ausgestorben ist es allerdings noch nicht, am 1. Mai durfte ich beispielsweise das Programm einer Partei abstauben, die Marx ' Namen sogar im Titel trägt. Da heißt es dann:
„Die Arbeiterklasse in Deutschland ... trägt die Hauptlast der Ausbeutung und Unterdrückung. Sie steht im unversöhnlichen Gegensatz zum Monopolkapital und repräsentiert als einzig revolutionäre Klasse die zukünftige sozialistische Gesellschaft. ... Die Eroberung der politischen Macht ist das strategische Ziel des Klassenkampfs der Arbeiterklasse.“8
Auch hier das alte Muster: das ArbeiterInnenklasse bzw. das Proletariat ist unterdrückt und leidet unter Ausbeutung und Unterdrückung. Ihr Gegner ist das Kapital und ihr Ziel die zukünftige sozialistische Gesellschaft. Wobei der Weg in die sozialistische Gesellschaft in erster Linie als Eroberung der politischen Macht gedacht wird.
Als Stammvater für eine solche Kritik auf Karl Marx zurückzugreifen, ist allerdings nur dann möglich, wenn tatsächlich nur die Zusammenfassungen von Sekundärquellen behandelt werden oder wenn sich auf wenige, zumeist ältere und vor allem tagespolitische Schriften von Marx zurückgegriffen wird. Wir werden später dann noch mal darauf zurückkommen, wo die Grenzen dieser Sichtweise liegen. An dieser Stelle würde das aber wohl zu weit führen.
(4) Christian Klar & die RAF
Ein anderer Punkt, der in den letzten Monaten immer mal wieder diskutiert wurde, ist die RAF. Höhepunkt war wohl die Grußbotschaft von Christian Klar an die Rosa-Luxemburg-Konferenz. Dort hatte er dazu aufgefordert, die „Pläne des Kapitals“ zu durchkreuzen.9 Was auch immer das Kapital so für Pläne haben soll, es wurde von Medien und Politik als Aufforderung dechiffriert, terroristisch zu wirken. Dabei wird stets eine Mischung aus Terrorismus, Kapitalismuskritik und Realsozialismus konstruiert, die manchmal schon fast wieder lustig ist. Wolfgang Schäuble etwa äußerte sich gegenüber dem Stern zur RAF mit den folgenden Worten:
„Die RAF war eine terroristische Mörderbande. Ihr Wahn von der sozialistischen Gesellschaft endete in der kaltblütigen Ermordung unschuldiger Menschen.“10
Halten wir also fest: Christian Klar hat sich an einer Kapitalismuskritik versucht. Wolfgang Schäuble hat daraus das Bekenntnis zu einem sozialistischen System bzw. zu einer sozialistischen Gesellshaft gemacht. Und das wiederum mit dem Terrorismus der RAF kurzgeschlossen. Mit dem was Christian Klar gesagt hat hatte das allerdings nichts mehr zu tun. Ebensowenig mit dem, was etwa Karl Marx gesagt, hat, dessen Hauptwerk ja mit „Das Kapital“ betitelt ist.
Dabei ist es kein Zufall, dass auch Klar vom Kapital spricht. Denn die RAF hat sich immer wieder auch auf Marx bezogen. Oder besser gesagt auf den Marxismus bzw. den Marxismus-Leninismus. Bei ihrer Analyse der Gesellschaft und der Begründung ihrer Anschläge auf einzelne Menschen hat sie immer mit marxistischem Vokabular gearbeitet, nämlich mit der Formulierung von der „Charaktermaske“. Der Begriff der Charaktermaske taucht wohl zum ersten Mal bei Marx auf. Laut RAF sind Charaktermasken die VertreterInnen der Herrschenden, was sich dann in den konkreten Formulierungen niederschlägt, wenn sie etwa behaupten, sie seien
"gegen den seinem Wesen und seiner Tendenz nach durch und durch faschistischen Imperialismus - in welcher Charaktermaske auch immer er sich selbst am besten repräsentiert findet: Nixon und Brandt, Moshe Dayan oder Genscher, Golda Meir oder McGovern"11
Die jeweiligen Personen werden persönlich benannt (und damit haftbar gemacht), als Begründungsschema dient die marxsche Formulierung von der Charaktermaske. Dabei werden die Charaktermasken stets als handelnde AkteurInnen gedacht, sie sind "Strategen und Faschisten" – wie das in einem anderen Absschnitt heißt. Ganz so, als läge das Problem in diesen einzelnen Menschen. Und als könne es entsprechend gelöst werden, wären nur diese Menschen resp. Charaktermasken weg.
Entsprechend wurden die Erschießungen auch immer wieder mit dem Hinweis gerechtfertigt, die Toten seien doch nur Charaktermasken gewesen. Die Sache ist also ziemlich eindeutig: die RAF erschießt Menschen und legitimiert das mit Rückgriff auf Marx, den sie dann ja scheinbar besonders gut gelesen zu haben scheint. Allerdings findet sich in einem RAF-Pamphlet, nämlich im „Konzept Stadtguerilla“ auch diese wunderschöne Passage:
"In der Papierproduktion der Organisationen erkennen wir ihre Praxis hauptsächlich nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich vor einer imaginären Jury... den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen. Es ist ihnen peinlicher, bei einem falschen Marx-Zitat ertappt zu werden als bei einer Lüge, wenn von ihrer Praxis die Rede ist. Die Seitenzahlen, die sie in ihren Anmerkungen angeben, stimmen fast immer, die Mitgliederzahlen, die sie für ihre Organisationen angeben, stimmen fast nie."12
Ob es nun sinnvoll ist, dass linke Gruppen immer richtige Mitgliederzahlen angeben, ist hierbei gar nicht so wichtig. Wichtig ist das Bekenntnis, dass es einem im Zweifelsfall nicht so wichtig ist, was da genau steht. Ein Verständnis der marxschen Theorie galt der RAF vielmehr als Konkurrenzkampf der Intellektuellen und als ziemlich bürgerliche Veranstaltung. Stattdessen hat sie auf Praxis gesetzt. Darauf, endlich mal zu handeln. Und so hat sie es am Ende doch nicht besonders Ernst genommen mit der Marx-Lektüre.
Aber wir können das ja hier mal gemeinsam nachholen. Es gibt bei Marx im Kapital zwei recht eingängige Passagen, in denen sich Marx mit diesem Problem auseinandersetzt. Das erste steht im Vorwort zum Kapital:
„Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“13
Hier sagt Marx ganz eindeutig, das er zwar des häufigeren mal fiese Dinge über KapitalistInnen von sich lässt, es ihm letztlich dabei aber nie um die Menschen in ihrer körperlichen Hülle geht. Vielmehr seien sie „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ und lediglich „Träger“ bestimmter Interessen – die immer auch ohne den je konkreten Träger existieren. Weshalb es auch schwierig ist, „den einzelnen verantwortlich machen“ zu wollen für die Verhältnisse. Wenn das aber nur schwer möglich ist, dann macht es auch kaum Sinn, die einzelnen stellvertretend für die Verhältnisse zu erschießen.
Noch deutlicher wird Marx dann im Kapitel über den Austauschprozess:
„Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“14
Hier fällt ins Auge, das für Marx scheinbar die Frage nach der „Ware“ bzw. den Warenbesitzerinnen und -besitzern wichtig zu sein scheint. Und tatsächlich beginnt Marx auch seine systematische Darstellung des Kapitals mit der Ware. Womit wir uns auch schon mit großen Schritten dem zweiten Teil genähert hätten.
1) Stern 20/2005
2) Dietrich Schwanitz: Bildung – Alles was man wissen muss. München 1999
3) Jürgen Rüttgers: Worum es heute geht. Bergisch-Gladbach 2005. Seite 103
4) MEW 19, 357
5) vgl. Der Spiegel 36/2005
6) MEW 19, 30
7) http://www.arbeiterlieder.de/wien.htm
8) Programm der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) http://www.mlpd.de/mlpd/mlpd_programm/mlpdwas_prog_kapc.htm
9) Eine Dokumentation des Grußwortes findet sich hier: http://www.jungewelt.de/2007/02-28/049.php
10) http://www.stern.de/politik/historie/583047.html?eid=501091
11) Rote Armee Fraktion: Die Aktion des Schwarzen September in München. Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes http://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/RAF/brd+raf/011.html
12) Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerilla http://www.nadir.org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/Stadtguerilla+RAF/RAF/brd+raf/004.html
13) MEW 23, 16
14) MEW 23, 99